Gemeinschaft und soziales Leben
1„Eine menschliche Gemeinschaft ist wesentlich durch das geprägt, was sie als Gemeinschaft will und meint“, so beschreibt Eugen Fink das Wesen der Gemeinschaft in einer Vorlesung aus dem Wintersemester 1968/691. Der phänomenologische Einwurf ist damit ausgewiesen: Wenn sich Gemeinschaft primär als Sinnentwurf verstehen lässt, wenn Gemeinschaft wesentlich eine Erfahrungsdimension miteinbezieht, die Beschreibung, Reflexion und Interpretation erfordert, dann ist eine phänomenologische Analyse angebracht. Es ist nicht schwer, einen phänomenologischen Zugriff auf die Begrifflichkeit der Gemeinschaft zu finden, denn bereits Husserl spricht von intermonadischen und Wir-Gemeinschaften, die ihre jeweilige Kultur und Tradition haben. Dabei durchleuchtet er Gemeinschaft und Sozialität durch Begriffe wie Einfühlung und Kommunikation. In den Kaizo-Artikeln spricht er dazu von einem „Gemeinschaftsbewußtsein“ sowie von einer „Personalität höherer Ordnung“, die sich im Sinne der Gemeinschaft als solcher, in ihrem Streben und Wollen realisiert. Husserls intersubjektive Überlegungen gewinnen durch die Begriffe der Gemeinschaft und Sozialität entsprechend auch an normativer und ethischer Konkretion. So geht es ihm in den Kaizo-Artikeln etwa um die Erneuerung einer vernünftigen Gemeinschaft im Ausgang einer strengen Wissenschaft, die es ermöglicht, das Wesen einer „vernünftigen Humanität“ zu bestimmen. Eine Erneuerung, die angesichts einer leidvollen Gegenwart unausweichlich und angebracht erschien. Ihm geht es folglich insbesondere auch um die Verwirklichung „echter Werte“.
2Doch was kann der hier beschworene Wert-Begriff angesichts seiner realpolitischen Enttäuschungen heute noch bedeuten? Kritisch ermahnt uns Merleau-Ponty in Humanismus und Terror, dass eine Gesellschaft nicht der „Tempel jener Wert-Idole [ist], die auf dem Giebel ihrer Monumente oder in ihren Verfassungstexten stehen“. Vielmehr ist eine Gemeinschaft gerade „das wert, was in ihr die Beziehungen des Menschen zum Menschen wert sind“ 2.
3Die phänomenologische Denktradition beschäftigt sich bereits seit ihren Anfängen mit dem „Bezugsgewebe zwischenmenschlicher Angelegenheiten“, um es in Arendts Worten zu benennen. Hier werden ethische, politische, sozialontologische und wertlogische Fragestellungen aufgerufen, die aus unterschiedlichen Fluchtlinien beleuchtet wurden und weiterhin werden. Diese erste Edition des Journals phainesthai. Neue phänomenologische Blätter widmet sich in diesem Horizont Fragen der Gemeinschaft und des sozialen Lebens in der phänomenologischen Denktradition und möchte dadurch einen Anstoß für weitere Diskussionen liefern.
4Das Journal phainesthai. Neue phänomenologische Blätter hat es sich zur Aufgabe gemacht, phänomenologische Diskurse und Diskussionen anzureichern. Dies soll durch Stimmen geschehen, die in der akademischen Forschung noch weniger vertreten sind. Das Journal richtet sich damit insbesondere an junge Forscher*innen in frühen Karrierephasen – vom Masterstudium bis zur frühen Postdoc-Phase. Das Konzept besteht darin, vergleichsweise kurze Texte zu veröffentlichen, die es ermöglichen sollen, die Autor*innen mit anderen Wissenschaftler*innen zu vernetzen, damit sachliche Diskussionen und Austauschmöglichkeiten entstehen können. Darin liegt, dass phainesthai für einige der veröffentlichten Autor*innen die erste Gelegenheit ist, sich mit dem peer-review-Verfahren und dem damit einhergehenden Veröffentlichungsprozess vertraut zu machen. Auch die Gutachten zu den Artikeln werden von jungen Forscher*innen erstellt (bei Interesse, als Gutachter*in zu fungieren, bitten wir um eine kurze E-Mail an et-al@ophen.org).
Die Artikel dieser ersten Ausgabe
5Der erste Beitrag Zur Idee einer genetischen Phänomenologie der Internalisierung. Ein Beitrag Husserls zur sozialwissenschaftlichen Theorie widmet sich dem sozialwissenschaftlichen Begriff der Internalisierung und möchte diesen phänomenologisch untermauern: Julian Lünser argumentiert dafür, Internalisierung als eine besondere Form der Stiftung von Horizonten zu verstehen. Auf diese Weise wird es möglich, Phänomenologie zum Verständnis von Grundbegriffen aus den Sozialwissenschaften heranzuziehen.
6Im zweiten Beitrag Die eidetische Methode und die Gemeinschaft. Schützens Kritik an Stein und Walther vertieft Eric Ebner das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Philosophie der Sozialwissenschaften, indem die eidetische Methode durch eine dreifache Auseinandersetzung zwischen Alfred Schütz, Edith Stein und Gerda Walther beleuchtet wird. Eine solche methodologische Reflexion, so wird argumentiert, ist für ein angemessenes Verständnis des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Sozialwissenschaften unerlässlich.
7Der dritte Beitrag Zur Möglichkeit einer phänomenologischen Ontologie der Wirtschaftswissenschaft betrachtet Paul Meyer den Versuch von Josef M. Backs, Husserls Phänomenologie mit den Wirtschaftswissenschaften zu verbinden. Durch die Auseinandersetzung mit Back und seiner Konzeption einer reinen Ökonomie wird aufgezeigt, dass Wesensforschung selbst in unerwarteten Bereichen zu anschlussfähigen Ergebnissen führen kann.
8Im vierten Beitrag Max Schelers Beitrag zur Tierethik. Von der vitalen Sympathie zum Mitgeschöpf erkundet Raphael Röchter die Mensch-Tier-Beziehungen entlang Schelers Sozialphilosophie und Anthropologie, mit Augenmerk auf Schlüsselkonzepte wie die Einsfühlung, um eine interspezielle Lebensgemeinschaft zu denken, welche sich mit den Ansätzen der neueren Tierethikdebatte verknüpfen lässt.
9Im fünften Beitrag Basale Gemeinschaft. Zusammengehörigkeit aufgrund (mit)erlebter Fremdheit und Vertrautheit untersucht Georg Harfensteller phänomenologische Ansätze zur Gemeinschaft ausgehend von der Differenzierung zwischen affektiver Fremdheit und Vertrautheit. Vor allem Alfred Schütz spielt hier eine zentrale Rolle, aber auch dem Thema des Nachvollziehens fremder Affekte durch Edith Steins Konzept der Einfühlung wird nachgegangen. Gerade aufgrund einer leibphänomenologischen Fundierung der Gemeinschaft wird es möglich, ein ethischer und politischer Anspruch an gesellschaftliche Begegnungsräume zu formulieren.
10Die nächste Ausgabe wird sich mit dem Thema einer phänomenologisch inspirierten Psychopathologie und Psychotherapie auseinandersetzen. Der Call for Papers erscheint in den ersten Monaten des Jahres 2026. Stay tuned!
Redaktion
- Marianne Berlie
- Diego D‘Angelo
- Vanessa Ossino
- Amalia Trepca


