Der vorliegende Essay zielt darauf, die Frage zu beantworten, was unter „moralischer Wahrnehmung“ zu verstehen ist und worin ihre Natur und Bedeutung im Hinblick auf eine phänomenologische Ethik und Werttheorie liegen. Die Einleitung skizziert einige diesbezüglich relevanten Probleme und Herausforderungen (I). Der zweite Teil greift die Idee der moralischen Supervenienz auf und geht der Frage nach, was diese in der gegenwärtigen metaethischen Debatte häufig in Anspruch genommene Konzeption, welche eine generelle These zur Konstitution moralischer Eigenschaften bzw. Fakten darstellt, zur Analyse von moralischer Wahrnehmung beiträgt (II). Im dritten Teil wird zugunsten einer alternativen Konzeption argumentiert. Es wird die These vertreten, dass es vielmehr eine phänomenologisch-deskriptive Untersuchung ist, welche imstande ist, die Eigenart moralischer Wahrnehmung als einer kontextsensitiven Diskriminierungsleistung zu erschließen. Denn der phänomenologische Zugang zeichnet sich dadurch aus, den Selbsteinschluss des wahrnehmenden Subjekts und die partikularen Wahrnehmungs- und Handlungsumstände im Rekurs auf die Idee praktischer Identität in angemessener Weise zu berücksichtigen. Eine Phänomenologie der moralischen Wahrnehmung ist in diesem Sinn integrativ (inklusiv) und dynamisch. Sie weist die zeitliche und interaktive (soziale) Dimension der moralischen Wahrnehmung als konstitutive (sc. nicht bloß kontingent anhängende) Bestandteile derselben auf. (III). Im vierten Teil wird diese Grundlegung anhand der exemplarischen Auseinandersetzung mit einem literarischen Text (Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte Notwehr) zur Anwendung gebracht. Der Fokus liegt dabei auf der Wahrnehmung von Personen als Handlungsträgern wie auch auf der Wahrnehmung eigener und fremder Gefühle und deren Beitrag zur Konstitution des Wahrgenommenen (IV). Der abschließende fünfte Teil skizziert das Gerüst einer phänomenologischen Konzeption moralischer Wahrnehmung, wie es sich auf Basis des zuvor Ausgeführten darstellt (V).